SZ vom 12. März 2021 - Alkoholsucht in der Pandemie

 "Du entscheidest heute, ob du leben willst oder sterben"

Von Simon Garschhammer

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Der Alkohol hat Norbert Gerstlacher erst begleitet, dann beherrscht - und schließlich fast vernichtet. Heute hilft der 60-Jährige anderen Menschen im Kampf gegen ihre Sucht. Er weiß: Im Lockdown sind sie besonders gefährdet.

Alkohol begleitet das Leben von Norbert Gerstlacher schon lange. Er begleitet ihn als "Münchner Kindl", als er in einem Biergarten in Neuhausen die erste Halbe trinkt. Er begleitet ihn im Studium, als er auf dem Oktoberfest die sechste Mass kippt und die Freunde sagen: "Wow, der steht noch." Und er begleitet ihn als Chef einer Werbeagentur, als man nachmittags mit Whisky anstößt, wenn Großkunden gewonnen werden. Doch irgendwann begleitet ihn der Alkohol nicht nur, er beherrscht ihn, bis er ihn schließlich fast vernichtet.

Es ist im Jahr 2002, und Gerstlacher Anfang 40, als er alles verliert: seine Firma, sein Einkommen, seine Ehe, seinen Lebensmut. "Ich wollte mich damals wegknipsen mit dem Alkohol", sagt er. Drei bis vier Flaschen Wein trinkt er da pro Tag, am Ende habe nicht mal das gereicht: "Sobald der Pegel runtergegangen ist, und das ganze Elend sichtbar wurde, habe ich zugetankt. Ich wollte so viel trinken, bis ich nicht mehr aufwache."

Es ist ein Tag wie jeder andere, so fühlt es sich für ihn an, der schließlich Gerstlachers Leben rettet. Wie jeden Morgen wacht er auf, verkatert, doch plötzlich ist da diese Stimme in ihm, die er den restlichen Tag nicht mehr los wird. "Du entscheidest heute, ob du leben willst oder sterben", sagt sie. Noch am gleichen Tag sucht er sich Hilfe. Er vereinbart einen Termin bei einer Selbsthilfegruppe. Norbert Gerstlacher entscheidet sich zu leben.

19 Jahre später. Gerstlacher ist "trocken". Der Alkohol begleitet ihn zwar noch immer, aber anders. Denn mittlerweile arbeitet er für den Verein, der seine damalige Selbsthilfegruppe organisiert hat: das Blaue Kreuz München. Angefangen hat er als Ehrenamtlicher, hat sich dann ausbilden lassen zum Gruppenleiter, seit 2019 arbeitet er im Koordinationsbüro an der Hesseloherstraße in Schwabing. "Ohne das Blaue Kreuz hätte ich das nicht geschafft", sagt der 60-Jährige über die Überwindung seiner Sucht.

Im Jahresbericht 1919 sind 1169 Hausbesuche vermerkt - "Trinkerrettungsarbeit"

Das Blaue Kreuz München ist ein gemeinnütziger Verein, der Unterstützung für suchtgefährdete und suchtkranke Menschen bietet und dabei Selbsthilfegruppen organisiert. Die Anfänge des Vereins in München gehen auf das Jahr 1905 zurück, als fünf christliche Glaubensbrüder den "Evangelischen Blau-Kreuz-Verein" gründen. Steht anfangs noch Bibelarbeit im Fokus, leisten Ehrenamtliche bereits früh "Trinkerrettungsarbeit" in der Stadt. Für den Jahresbericht im Jahr 1919 sind bereits 1169 Hausbesuche vermerkt. Heute ist der Verein eine wichtige Säule für Alkoholkranke in der Region. Das Blaue Kreuz organisiert 64 Gruppen im Raum München, der Verein betreut dabei mehr als 800 Menschen pro Woche.

Wie wichtig die Arbeit des Vereins ist, zeigt die Statistik der fünf Sucht-Selbsthilfe- und Abstinenzverbände aus dem Jahr 2017: Demnach gibt es 87 Prozent weniger Rückfälle, wenn Suchtkranke nach einer stationären Behandlung in eine Selbsthilfegruppe gehen.

Abhängig und isoliert

Obwohl Studien wie die des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) Mannheims einen erhöhten Alkoholkonsum feststellten, verzeichnete die Sucht-Hotline München weniger Anrufe während des zweiten Lockdowns. Damit wiederhole sich ein Phänomen, das schon im ersten Lockdown zu beobachten war, sagt Christoph-Peter Teich, Leiter der Sucht-Hotline München. Experten vermuten, dass die rückläufige Nachfrage der Suchthilfe vor allem mit der Isolation zusammenhänge. So gebe es im Lockdown weniger Alternativen zum Missbrauch von Suchtmitteln. Denn Sport, Reisen und soziale Kontakte sind nur eingeschränkt möglich. "Wir konnten diese Entwicklung zunächst nicht verstehen. Offensichtlich ist es aber so, dass Abhängige im Suchtmittel einen Helfer in der Isolation sehen, den sie jetzt nicht aufgeben wollen", sagt Teich. Durch die Lockerungen der Pandemie-Einschränkungen erwartet man in der Sucht-Hotline München jedoch einen deutlichen Anstieg der Nachfrage. Betroffene können sich über die 24-Stunden-Hotline telefonisch unter der Nummer 28 28 22 oder per Mail an kontakt@suchthilfe.info Hilfe suchen. gsv

Darüber hinaus geben Selbsthilfegruppen den Betroffenen Struktur. Und was bei der Bekämpfung der Sucht besonders wichtig ist: Sie bieten ihnen ein neues soziales Umfeld, ohne Alkohol. "Ab dem Moment, wo ich abstinent war, sind locker 80 Prozent aller sozialen Kontakte weggebrochen", sagt Gerstlacher. Denn wie er früher, trinken viele Alkoholkranke nicht nur allein, sondern in Gesellschaft. Für Betroffene, die der Sucht dann den Kampf ansagen, ist ihr bisheriges soziales Umfeld wortwörtlich toxisch.

Die Selbsthilfegruppen sind für nicht wenige Menschen zu einem Anker im Leben geworden - kein Wunder also, dass viele bereits sehr lange im Verein aktiv sind, einer der Gruppenleiter sogar seit 28 Jahren.

Fast alle Gruppenleiter vom Blauen Kreuz haben selbst Erfahrungen mit dem gefährlichen Genussmittel. Somit könnten sie auf Augenhöhe mit den Betroffenen umgehen, sagt Gerstlacher. Für ihn war das ein entscheidender Punkt in der Bekämpfung seiner Sucht: "Bei meinem ersten Termin hat sich der Gruppenleiter vorgestellt, er war selbst betroffen. Er hat mit mir in einer Weise über die Sucht und die Folgen geredet, dass ich mich so was von aufgenommen gefühlt habe." Für Gerstlacher beginnt damals ein hartes Ringen, doch mithilfe anderer schafft er es. Ende März ist es 19 Jahre her, dass er den letzten Tropfen Alkohol getrunken hat.

Der Verein muss nun nach Dringlichkeitsstufen aussieben

Noch vor knapp einem Jahr konnte sich Gerstlacher nicht vorstellen, dass er bald nicht nur die Folgen von Alkohol, sondern auch die Folgen eines Virus bekämpfen muss. Denn Corona beeinträchtigt die Arbeit im Verein sehr und gefährdet so die Gesundheit der Betroffenen. Seit dem zweiten Lockdown dürfen Selbsthilfegruppen nicht mehr als fünf Personen umfassen.

Für den Verein bedeutet die Einschränkung konkret, dass sie nur noch die Hälfte der 800 Betroffenen in den Gruppen unterbringen können. "Wir haben nach wie vor mit der Fünf-Personen-Regel zu kämpfen, das ist problematisch, weil wir nach Dringlichkeitsstufen aussieben müssen, das ist menschlich sehr schwierig", sagt Gerstlacher, der für die Koordination der Gruppen verantwortlich ist.

Er bemüht sich um eine Ausnahmeregel für Selbsthilfegruppen, doch bisher ohne Erfolg. Nicht nur er befürchtet, dass viele der Betroffenen durch die Isolation rückfällig werden. Auch Selbstverständliches wird zur Herausforderung, zum Beispiel die Organisation der Räume. Viele Gruppen mussten deshalb bereits geschlossen werden - schlicht, weil es keine Orte mehr gibt, an denen die Sitzungen stattfinden können.

Es gibt Lockerungen - aber nicht für Selbsthilfegruppen

Der Verein kann das Angebot nicht halten, zugleich steigt aber die Nachfrage an Plätzen in den Selbsthilfegruppen. "Der Bedarf ist immens", sagt Gerstlacher. Ihn verwundert das nicht: "Menschen, die schon vorher missbräuchlich Alkohol konsumiert haben, sind durch Corona noch gefährdeter."

Das bestätigt eine Studie, die den Alkoholkonsum und -verkauf während des Shutdowns im März 2020 untersucht hat: Laut dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim ist der Absatz von alkoholischen Getränken während der ersten Wochen um sechs Prozent gestiegen, 37 Prozent gaben an, mehr Alkohol als vorher zu konsumieren. Und das trotz geschlossener Kneipen und Clubs.

Am 8. März öffnet sich langsam das Land. Gerstlacher schöpft neue Hoffnung für eine Lockerung der Fünf-Personen-Regel. Doch wieder kein Erfolg. Er empfindet es als Skandal, dass Selbsthilfegruppen anderen Vereinen gleichgesetzt werden. Er fordert, dass die besondere Situation der Suchtkranken anerkannt wird, bürokratische Hürden abgebaut und Sitzungen wieder stattfinden können.

Nicht wenige Suchthilfe-Vereine hätten bereits aufgegeben und ihre Arbeit komplett ausgesetzt, beklagt er und will sich nun mit anderen Vereinen der Stadt zusammenschließen und so den Druck auf die Politik erhöhen. "Ich werde die Füße nicht stillhalten." Aufgeben ist keine Option für Norbert Gerstlacher, weder damals noch heute.