Information über Sucht und Abhängigkeit

Link: S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“

Was ist Sucht?

Unter Sucht versteht man ein bestimmtes Verhaltensmuster, das mit einem unwiderstehlichen, wachsenden Verlangen nach einem bestimmten Gefühls- und Erlebniszustand beschrieben wird. Grundsätzlich kann jeder Mensch süchtig werden. Da Sucht nicht auf den Umgang mit bestimmten Stoffen beschränkt ist, kann jede Form menschlichen Verhaltens zur Sucht werden (z. B. Arbeitssucht, Spielsucht, Esssucht, Verlangen nach sexueller Befriedigung).
Jede Sucht entsteht über den Prozess: Erfahrung – Wiederholung – Gewöhnung – Missbrauch.

Abhängigkeit statt Sucht

Da der Begriff Sucht sehr unspezifisch ist, wurde er in Bezug auf stoffgebundene Süchte (Sucht nach Nikotin, Tabletten, Drogen, Alkohol …) durch den Begriff Abhängigkeit ersetzt. Hier ist die Definition der Abhängigkeit durch die Weltgesundheitsorganisation in Fachkreisen und den Krankenkassen zum Standard geworden. Abhängigkeit wird dabei allgemein definiert, eine genauere Festlegung erfolgt durch die Angabe, von welcher Substanz eine Abhängigkeit besteht. Für die Abhängigkeit werden sieben Kriterien angegeben, von denen mindestens drei erfüllt sein müssen, um eine Diagnose stellen zu können:

  1. Starkes Verlangen, die Substanz (z. B. Alkohol) zu konsumieren
  2. Schwierigkeiten, die gefassten Vorsätze in Bezug auf Menge, Art und  Häufigkeit des Substanzkonsums einzuhalten (Minderung der Kontrollfähigkeit)
  3. Körperliche Beschwerden bei Reduzierung der Konsummenge oder bei Beenden des Konsums (Entzugserscheinungen)
  4. Zunahme des Konsums, ohne dass die Wirkung der Substanz zunimmt (Toleranzentwicklung)
  5. Immer einförmiger werdende Konsumgewohnheiten (eingeengtes Konsummuster)
  6. Vernachlässigung anderer Interessen, z. B. Familie, Hobbys, Freunde, Beruf
  7. Fortsetzung des Konsums trotz des Wissens um bereits eingetretene Schäden körperlicher, seelischer oder sozialer Art

Bemerkenswert an dieser Definition ist die Tatsache, dass nicht alle Kriterien erfüllt sein müssen, um abhängig zu sein. Es werden auch keine Trinkmengen angegeben und der Substanzkonsum muss nicht zwingend täglich erfolgen. Im Zentrum der Definition steht die Frage, welchen Stellenwert und welche Bedeutung das Suchtmittel im Leben des Betroffenen, in seinem Denken, Fühlen und Handeln einnimmt. Nur durch eine ehrliche und selbstkritische Beantwortung dieser Frage kann der Betroffene für sich klären, ob er abhängig ist oder nicht. Laborwerte oder medizinisch-psychologische Befunde geben hierüber keine sichere Auskunft.

Alkoholabhängigkeit: Zahlen und Fakten

131,1 Liter pro Kopf
Im Jahr 2017 betrug der Pro-Kopf-Konsum an alkoholischen Getränken in der Bundesrepublik 131,1 Liter. Das entspricht 10,5 Liter reinem Alkohol.

1,61 Millionen trinken missbräuchlich
Etwa 1,61 Millionen Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren trinken missbräuchlich Alkohol. Sie nehmen körperliche, psychische und soziale Folgen in Kauf. Männer trinken durchschnittlich deutlich mehr als Frauen.

1,77 Millionen sind alkoholabhängig
Rund 1,77 Millionen Männer und Frauen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sind alkoholabhängig.

74.000 Todesfälle jährlich
Schätzungen für Deutschland belaufen sich auf etwa 74.000 Todesfälle, die durch riskanten Alkoholkonsum oder durch den kombinierten Konsum von Alkohol und Tabak verursacht werden.

Alkohol wird relativ immer billiger
Nach aktuellen Analysen für Deutschland sind innerhalb der letzten 40 Jahre alkoholische Getränke im Vergleich zur sonstigen Lebenshaltung um 30 Prozent billiger geworden. Dabei sanken die Verbraucherpreise für Wein um 38 Prozent, für Spirituosen um 33 Prozent und für Bier um 26 Prozent.

40 Milliarden € Krankheitskosten
Die direkten und indirekten Kosten alkoholbedingter Krankheiten werden pro Jahr auf 40 Milliarden Euro geschätzt. 

3,14 Milliarden € staatliche Einnahmen
Im Jahr 2017 betrugen die staatlichen Einnahmen aus Bier-, Schaumwein- und Spirituosensteuer 3,165 Milliarden Euro. Auf Wein wird in Deutschland keine Steuer erhoben. 

619 Millionen € für Werbung
Die Werbeaufwendungen für alkoholische Getränke in TV, Rundfunk, Plakatwerbung und Zeitungen/Zeitschriften betrugen 2017 rund 619 Millionen Euro. 

13.343 Unfälle im Straßenverkehr
In 2017 ereigneten sich insgesamt 13.343 Alkoholunfälle mit Personenschaden. Bei diesen Unfällen wurden 13.463 Menschen verletzt. Insgesamt starben 231 Menschen durch Alkoholunfälle.

231.291 Tatverdächtige unter Alkoholeinfluss
Im Jahr 2017 haben insgesamt 231.291 Tatverdächtige ihre Tat unter Alkoholeinfluss begangen. Das sind 10,9 Prozent aller Tatverdächtigen.

Gewalttaten unter Alkoholeinfluss
2017 wurden insgesamt 46.697 Gewalttaten unter Alkoholeinfluss verübt. Das sind 26,8 Prozent  aller Tatverdächtigen im Bereich der Gewaltkriminalität.
Insbesondere bei schwerer und gefährlicher Körperverletzung inkl. der Verstümmelung weiblicher Genitalien prägt Alkoholeinfluss weiterhin die Tatbegehung in erheblichem Umfang. 40.565 (27,8%) solcher Taten wurden unter Alkoholeinfluss verübt.
30,5% (574) der Tatverdächtigen der Straftatengruppe Totschlag und Tötung auf Verlangen standen unter Alkoholeinfluss.

 

Quelle: 
- Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Jahrbuch Sucht 2019
- BKA Bundeskriminalamt Wiesbaden 2018, www.bka.de
- Effertz 2015
Weitere Zahlen und Fakten finden auf der Homepage der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS)


 

Co-Abhängigkeit

Das Verhalten von Suchtkranken trägt dazu bei, ganz bestimmte Entwicklungen bei den Menschen im Umfeld zu provozieren: Sie übernehmen häufig die Verantwortung für die abhängige Person, auch wenn diese längst schon ein erwachsener Mensch ist. Das zunächst naheliegende und ganz normale hilfreiche Verhalten des Umfeldes bekommt zunehmend einen Sucht unterstützenden Charakter und entwickelt ein eigenes Krankheitsbild: die Co-Abhängigkeit. Co-Abhängige sind Verbündete des Abhängigen, ohne dass ihnen das bewusst ist.

Wenn sie

  • Verantwortung für den Abhängigen übernehmen,
  • ihm Aufgaben abnehmen, sein Verhalten entschuldigen oder decken,
  • selbst Schuldgefühle entwickeln, weil der Angehörige trinkt,
  • ihre eigenen Gefühle unterdrücken, sie vor sich selbst nicht wahrhaben wollen und sie vor dem Abhängigen und anderen nicht zeigen oder zugeben,
  • ihren eigenen Lebensstil an die Suchtgewohnheiten des Partners anpassen,
  • die Tatsachen über die Suchtentwicklung und die Konsequenzen daraus verleugnen oder verniedlichen,
  • versuchen, den Alkoholkonsum zu kontrollieren,
  • den Eindruck gewinnen, selbst seelisch oder körperlich krank zu werden,

dann sind sie in ihrem Wohlbefinden sehr stark vom Verhalten des Abhängigen bestimmt – und sind dadurch unfrei, eben co-abhängig. Sie haben ihren eigenen unabhängigen Standpunkt verloren und brauchen nun selbst Hilfe.

Weiterführende und vertiefende Informationen haben wir für Sie im Bereich Information/Download unter: Informationsbroschüren und Factsheets der DHS, bereit gestellt.
Besuchen Sie auch unsere Seite zum Thema "Co-Abhängigkeit und Angehörige"


 

Symptomliste der Abhängigkeit (Jellinek-Schema)

Einführung

Eine grundlegende Untersuchung über die Krankheit Alkoholismus stammt von dem amerikanischen Professor Dr. E. M. Jellinek. Im Auftrag der WHO (World Health Organisation, Weltgesundheitsorganisation) untersuchte er in den 30er Jahren mehrere tausend Fallgeschichten von Alkoholikern und fasste das Ergebnis in ein Schema von 4 Phasen und - innerhalb dieser - 45 Symptomen zusammen. Auf der Grundlage dieser Untersuchung wurde Alkoholismus durch die WHO als Krankheit anerkannt. Die von Jellinek beschriebenen Phasen V, A, K und C beschreiben eine zunehmende Chronifizierung der Alkoholabhängigkeit. Die Übergänge zwischen den Phasen sind fliessend und nicht jeder Patient muss alle Symptome entsprechend der vorgegebenen Reihenfolge erleben.

Die innerhalb der Phasen beschriebenen 45 Symptome stellen jedoch besonders typische Merkmale der fortschreitenden Suchterkrankung dar, die im Einzelfall bedingt durch die jeweilige Lebenssituation und Persönlichkeit des Betroffenen unterschiedlich ausgestaltet sein können. Die Symptome treten häufig, aber durchaus nicht immer erstmalig in der Phase auf, in der sie beschrieben sind. Ist ein Symptom einmal aufgetreten, wird es in der Regel beibehalten und prägt sich im weiteren Verlauf der Suchterkrankung weiter aus.

Einzelne Symptome können übersprungen werden, auch nicht erwähnte Merkmale können evtl. hinzukommen.

Bildhaft kann gesagt werden: Die Symptome treffen gleich Mosaiksteinen aufeinander und zeichnen erst in ihrer Gesamtheit das Bild des Suchtmittelabhängigen.

Im Verlauf der jahrelangen praktischen Arbeit mit dem Jellinek-Schema hat sich gezeigt, dass dieser Symptomkatalog mit geringfügigen Abweichungen und Umstellungen ebenso auf die Entwicklung der Medikamentenabhängigkeit angewandt werden kann.

Daher wurde in dieser überarbeiteten Fassung des Jellinek-Schemas die jeweilige Symptombeschreibung für das Selbstbild des Alkoholismus ergänzt durch einen Hinweis auf die entsprechende typische Ausgestaltung dieses Symptoms beim Krankheitsbild der Medikamentenabhängigkeit.

Der entscheidende Vorteil dieses Symptomkataloges liegt darin, dass er es dem Suchtmittelabhängigen ermöglicht, seine Abhängigkeit und deren Entwicklungsstand selbst zu erkennen. Das Jellinek-Schema ist somit ein Instrumentarium zur Selbstdiagnose.

Kurzfassung:

1. Die voralkoholische Phase.
- gelegentliches Erleichterungstrinken
- Erhöhung der Alkoholtoleranz
- häufiges Erleichterungstrinken
 
2. Sieben Stufen in die Sucht: Anfangsphase
- 1. Auftreten von Gedächtnislücken
- 2. heimliches Trinken
- 3. dauerndes Denken an Alkohol
- 4. gieriges Trinken
- 5. Schuldgefühle wegen der Trinkart
- 6. Vermeiden von Anspielungen auf Alkohol
- 7. Häufigkeit der Gedächtnislücken nimmt zu
 
3. Der Abstieg beginnt: Die kritische Phase
8. unwiderstehliches Verlangen nach mehr Alkohol nach dem ersten Glas
( Kontrollverlust ) 9. Erklärung, warum man so trinke ( Ausreden, Alibis )
10. soziale Belastungen
11. übergroße Selbstsicherheit
12. auffällig aggressives Benehmen ( Die anderen sind schuld )
13. innere Zerknirschung, dauerndes Schuldgefühl
14. Perioden völliger Abstinenz
15. Änderung des Trinksystems
16. Fallenlassen von Freunden ( Feindseligkeit gegen die Umwelt )
17. Verlassen oder Wechsel des Arbeitsplatzes
18. Konzentrierung des Benehmens auf Alkohol
19. Verlust an äußeren Interessen
20. Neuauslegung mitmenschlicher Beziehungen
21. auffallendes Selbstmitleid
22. gedankliche oder tatsächliche Flucht
23. Änderungen im Familienleben
24. grundloser Unwillen
25. Sichern des Alkoholvorrats
26. Vernachlässigung angemessener Ernährung 27. erste Krankenhauseinweisungen wegen alkoholischer Beschwerden 28. Abnahme des Sexualtriebes 29. alkoholische Eifersucht
30. regelmäßiges morgendliches Trinken
 
4. Die chronische Phase
31. Einsetzen des verlängerten Rausches
32. bemerkenswerter ethischer Abbau
33. Beeinträchtigung des Denkens
34. alkoholische Psychosen
35. Trinken mit Personen unter Niveau
36. Zuflucht zu technischen Produkten
37. Verlust der Alkoholtoleranz
38. + 39. undefinierbare Ängste und Zittern werden Dauererscheinungen
40. organische Nervenschädigungen
41. Trinken wird zur Besessenheit
42. unbestimmte religiöse Wünsche
43. das Erklärsystem versagt
44. Zusammenbrüche
45. Alkoholdelirium

 

A. Vorphase

In der Vorphase nimmt die Suchterkrankung keimhaft ihren Anfang. Dabei gewinnt das Suchtmittel für den späteren Abhängigen zunehmend an Funktion, was ihm jedoch meist nicht bewusst ist. Dynamik erwächst dieser Ausgangssituation durch die hier einsetzende Erhöhung der Toleranz (= Verträglichkeit) und die gleichzeitig immer geringer werdende Bereitschaft und Fähigkeit des Abhängigen, seelische Belastungen ohne Suchtmittel zu ertragen.
Symptomatik der Vorphase

Alkohol ist in unserem Kulturkreis fest verwurzelt und wird üblicherweise bei geselligen Gelegenheiten getrunken. Die ersten Erfahrungen mit Alkohol werden in der Regel bei geselligem Zusammensein mit anderen gemacht. Die Wirkung von Alkohol wird mehr oder weniger bewusst als angenehm und anregend oder auch als entspannend und beruhigend erlebt. Dem Konsumenten fällt es unter Alkoholeinfluss in aller Regel leichter, aus sich herauszugehen.

Die meisten Alkoholkonsumenten bleiben im weiteren Verlauf dabei, Alkohol mit seiner angenehmen Wirkung nur oder fast nur bei sich mehr oder weniger zufällig ergebenden geselligen Gelegenheiten zu trinken. Der spätere Alkoholiker dagegen geht allmählich dazu über, vermehrt solche Situationen aufzusuchen oder herbeizuführen, in denen beiläufig getrunken wird. Da er sich weiterhin im geselligen Rahmen bewegt, wird ihm sein vermehrtes Trinken zunächst oft nicht bewusst. Nicht selten schreibt er dabei seine positive Stimmungsveränderung eher der Geselligkeit als dem Trinken zu, z.B. dem Fest, der Diskothek, dem Stammtisch. Auf diese Weise ergibt sich bei dem künftigen Alkoholiker ein sich kontinuierlich steigernder Gewöhnungseffekt, d.h. körperlich verträgt er bald mehr Alkohol als früher, er braucht jetzt jedoch auch grössere Mengen Alkohol, um die gesuchte Wirkung zu erreichen.

In dem Masse, in dem dem zukünftigen Alkoholiker die für ihn positive Wirkung des Alkohols bewusst wird, neigt er dazu, jetzt Alkohol auch gezielt in für ihn schwierigen oder unangenehmen Situationen einzusetzen oder ihn dazu zu benutzen, gezielt bereits vorhandene positive Stimmungslagen zu verstärken. Dadurch, dass die Wirkung des Alkohols sich hierbei als zuverlässiges Hilfsmittel erweist, beginnt der zukünftige Alkoholiker, diese Erfahrung auf immer mehr Situationen zu übertragen. Im Laufe dieser Entwicklung verliert der Betroffene so allmählich die Bereitschaft und das Zutrauen, andere Lösungswege zu suchen oder anzuwenden (beginnende psychische Abhängigkeit). Unabhängig davon, ob dieses zielgerichtete Verhalten bewusst oder unbewusst erlebt wird, erscheint das Trinken in dieser Phase jedoch weder dem Betroffenen noch seinen Angehörigen oder Freunden verdächtig.

Stimmungsverändernde Medikamente dagegen werden zunächst bei akuten Befindlichkeitsstörungen (Schlafstörungen, Angstgefühle, Niedergeschlagenheit, Schmerzen u.ä.) eingesetzt, wobei sie entweder vom Arzt verschrieben oder freiverkäuflich erworben werden können.

Im Gegensatz zum Alkohol werden Medikamente also üblicherweise von Beginn an bewusst zielgerichtet eingesetzt, um vorhandene Beschwerden zu lindern. Werden jedoch stimmungsverändernde Medikamente über einen langen Zeitraum hinweg eingenommen, weil die Beschwerden entweder anhalten oder immer wieder auftreten, wird auch der Medikamentenabhängige eine Steigerung der Verträglichkeit erleben, wobei er zunehmend grössere Mengen seines Mittels benötigt, um die angestrebte Wirkung zu erzielen.

ähnlich wie der zukünftige Alkoholiker verliert auch er mehr und mehr das Zutrauen und die Bereitschaft, mit seinen Beschwerden bzw. unangenehmen Empfindungen anders als durch Einnahme seines Mittels umzugehen, wobei auch er seine positiven Erfahrungen auf andere unangenehme oder belastende Situationen übertragen kann.

B. Anfangsphase

Die Anfangsphase ist dadurch gekennzeichnet, dass der Alkohol seinen Charakter als Genussmittel für den Abhängigen noch weiter verliert und nun mehr und mehr einen Stellenwert als universelles Hilfs- und Heilmittel erhält. Gleichzeitig beginnt der Umgang mit Alkohol und das Verhalten des Betroffenen in diesem Zusammenhang immer mehr von dem in der Gesellschaft üblichen Muster abzuweichen.

Bei Medikamentenabhängigkeit ist die Anfangsphase daran zu erkennen, dass Medikamente nicht mehr spezifisch für bestimmte konkrete Beschwerden und zeitlich streng befristet, sondern wie Alkohol, zunehmend als universelles Hilfs- und Heilmittel eingesetzt werden. In diesem Prozess verändern sich oft auch Verhalten und Einstellungen des Betroffenen.

1. Gedächtnislücken

Unter der Wirkung von Alkohol kann es zu Gedächtnislücken (sog. Erinnerungslücken, Filmrisse, Amnesien) kommen. Sie sind daran erkennbar, dass es dem Betroffenen schwerfällt oder ganz und gar unmöglich ist, sich an Tätigkeiten oder Begebenheiten zu erinnern, die während dieses Zustandes verrichtet wurden bzw. vorgefallen sind. Manchmal jedoch ist es noch möglich, durch Hinweise von anderen, Erinnerungsfetzen oder noch auffindbaren Spuren, die fehlenden Gedächtnisinhalte zumindest teilweise zu rekonstruieren.

Gedächtnislücken können auch ohne äussere Anzeichen von Trunkenheit auftreten, wobei sogar eine vernünftige Unterhaltung geführt oder schwierige Arbeit geleistet werden kann, ohne dass später eine Erinnerung daran vorhanden ist.

Gedächtnislücken unter dem Einfluss von stimmungsverändernden Medikamenten gleichen im allgemeinen den oben beschriebenen. Wegen der Langzeitwirkung verschiedener derartiger Medikamente ist es jedoch möglich, dass es auch noch im Verlauf des darauffolgenden Tages zu dadurch bedingten Erinnerungslücken kommt (z. B. nach abendlicher Einnahme von Schlaftabletten).

2. Heimliches Trinken

Aus dem Unterbewussten heraus entwickelt sich bei dem Betroffenen die vage Vorstellung, dass er Alkohol anders als andere trinkt. Um nun zu verhindern, dass andere die Menge oder Häufigkeit oder Zeitpunkt und Anlass seines Trinkens bemerken, bemüht er sich z.B. im täglichen Alltag, vor, während oder nach Geselligkeiten unbemerkt zu trinken oder auch Alkohol unauffällig zu besorgen bzw. Flaschen zu entsorgen. Im Gespräch wird die Trinkmenge heruntergespielt oder verleugnet, unter den Augen anderer werden ,vorzeigbare" Trinkmengen konsumiert oder Abstinenz vorgeführt. Je nach Lebenssituation kann es auch jetzt schon vorkommen, dass Alkohol versteckt wird.

Da stimmungsverändernde Medikamente ohnehin in der Regel nicht im Beisein anderer genommen werden, tritt das verheimlichende Verhalten hier meist noch nicht in Erscheinung. Es ist aber auch hier bereits durchaus möglich, dass der Betroffene aufhört, über seinen Medikamentenkonsum (auch z.B. dem Arzt gegenüber) offen zu sprechen und verstärkt darauf achtet, dass niemand seine Medikamente sieht oder die Einnahme beobachtet.

3. Häufiges Denken an Alkohol

Da der Alkoholiker sich inzwischen daran gewöhnt hat, Alkohol sowohl in Belastungssituationen als auch als Verstärker positiver Stimmungslagen einzusetzen, taucht der Gedanke an Alkohol nun immer häufiger in Verbindung mit unterschiedlichen Lebenssituationen auf. Dabei muss dies vom Betroffenen nicht bewusst registriert werden. So wird z.B. die Freude auf den Feierabend mit dem Gedanken an einen Drink verknüpft oder eine Einladung zu Geselligkeiten dahingehend geprüft, ob der Gastgeber genügend Alkohol zur Verfügung stellen wird.

Diese Entwicklung ist bei Medikamentenabhängigen ähnlich. Sie zeigt sich z.B. darin, dass der Betroffene zunehmend darauf achtet, genügend Medikamente vorrätig und ggfs. diese bei sich zu haben.

4. Verstärktes Verlangen nach Wirkung (gieriges Trinken)

Um die Alkoholwirkung möglichst schnell zu erreichen, geht der Betroffene mehr und mehr dazu über, die ersten Gläser möglichst schnell zu trinken und/oder immer weniger auf eine genussvolle Gestaltung des Trinkens zu achten. So kann es z.B. sein, dass er in hastigen Zügen oder direkt aus der Flasche trinkt oder dass er statt zu Bier oder Wein gleich zu hochprozentigem Alkohol greift.

Um eine schnellere Wirkung auch bei stimmungsverändernden Medikamenten zu erreichen, werden diese in Hosen-, Jacken- oder Handtaschen leicht zugänglich mitgeführt und unter Umständen ohne Flüssigkeit eingenommen. Manchmal kommt es auch bereits zu einer vorsorglichen Höherdosierung bei der einzelnen Einnahme.

5. Schuldgefühle wegen der Trinkart

Wenn dem Betroffenen bewusst wird, dass sich sein gesamtes Trinkverhalten (Häufigkeit und Trinkart) von dem anderer unterscheidet, können bereits zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger vage Schuldgefühle und Selbstvorwürfe auftreten, die zwar eine verstärkte gedankliche Beschäftigung mit Alkohol, jedoch keine konkrete Verhaltensänderung bewirken.

In der gleichen Weise kann auch der Medikamentenabhängige bereits in dieser Phase Schuldgefühle erleben, wenn ihm sein ungewöhnliches Verhalten bewusst wird. Häufig ist dies aber erst zu einem späteren Zeitpunkt der Fall.

6. Vermeiden von Anspielungen auf Alkohol

Aus dem oben beschriebenen Schuldgefühl heraus oder auch unbewusst neigt der Betroffene dazu, Gesprächen oder Medieninformationen über Alkohol und Suchtthematik auszuweichen. Eine Auseinandersetzung mit von wohlmeinenden Freunden oder Familienmitgliedern zur Verfügung gestelltem Informationsmaterial zu dieser Thematik vermeidet er. Sein gesamtes Verhalten zielt darauf ab, seinen Kenntnisstand zu dieser Thematik möglichst gering zu halten oder aber sich nur im Verborgenen zu informieren.

Bei der Entwicklung einer Medikamentenabhängigkeit kann das gleiche Verhalten auftreten.

7. Gehäufte Gedächtnislücken

Bereits gegen Ende der Anfangsphase kann es zu einer allmählichen aber deutlichen Häulung der Gedächtnislücken sowohl bei Alkohol- als auch bei Medikamentenabhängigkeit kommen.

C. Kritische Phase

Der Übergang von der Anfangs- in die kritischen Phase wird durch das Auftreten erster Kontrollverluste markiert. Mit dem Kontrollverlust erreicht die prozesshafte Entwicklung der Abhängigkeit das Stadium, ab dem man im engeren Sinne von einer Erkrankung sprechen kann. Auch der Kontrollverlust selbst, hinter dem es dann langfristig kein zurück mehr gibt, zeigt alle Eigenschaften prozesshaften Anwachsens:

Vom sich erstmals abzeichnenden, immer häufigeren Überschreitens selbst gesetzter, Einnahmemenge betreffender Grenzen, bis zu völlig haltloser massiver Weitereinnahme des Suchtmittels trotz deutlich absehbarer, erheblicher negativer Konsequenzen (wie in Pkt. 40 der chronischen Phase beschrieben).

Dieses prozesshafte Anwachsen des Symptombildes des Kontrollverlustes geht in aller Regel damit einher, dass die Entwicklung der psychischen Abhängigkeit seit der Vorphase zu einem als immer übermächtiger empfundenen Verlangen nach der Wirkung des Suchtmittels.

Dieses zunehmende Verlangen schränkt die Entscheidungsfreiheit des Abhängigen, ob er nun mit der Einnahme beginnt oder nicht, bereits im Vorfeld des Kontrollverlustes, also bevor er überhaupt mit dem Trinken beginnt, immer mehr ein.

Ein Widerstehen gegenüber solchen intensiver werdenden Wünschen nach Einnahme des Suchtmittels wird zunehmend schwieriger und anstrengender.

Das Auftreten von Kontrollverlusten führt im weiteren Verlauf der kritischen Phase fast zwangsläufig zu den dort weiter beschriebenen Symptomen. Hier zeigen ich zum einen soziale Belastungen in Form von Vorwürfen und Kritik aus dem sozialen Umfeld, zum anderen Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen. Auch erste körperliche Beschwerden können auftreten.

Meist gelingt es dem Suchtmittelabhängigen in dieser Phase jedoch noch, solche negativen Konsequenzen abzuwenden, die von ihm als besonders schwerwiegend erlebt werden. Am Ende der kritischen Phase jedoch gibt es kaum noch einen Bereich im Leben des Betroffenen (Familie, Freunde, Arbeit, Urlaub etc.), in dem sich die Suchterkrankung noch nicht in irgend einer Form ausgewirkt hat.

8. Kontrollverlust

Unter Kontrollverlust wird im allgemeinen der fortschreitende Verlust der willentlichen Kontrolle über die Trinkmenge verstanden. Dies zeigt sich konkret darin, dass der Betroffene, nachdem er eine kleine Menge Alkohol zu sich genommen hat, mit zunehmender Häufigkeit mehr trinkt, als er sich vorgenommen hatte, bzw. mehr, als in der jeweiligen konkreten Situation angemessen ist. Während zu Beginn der kritischen Phase derartige Kontrollverluste gelegentlich noch durch eigenes ,Pflichtgefühl" oder Einschreiten dritter Personen eindämmbar sind, wird dies mit zunehmender Ausprägung der Suchterkrankung immer schwieriger oder schliesslich ganz und gar unmöglich.

Der Kontrollverlust im eigentlichen Sinne bedeutet jedoch nicht, dass der Betroffene ständig trinken muss, auch für den Abhängigen ist es möglich, phasenweise gar nicht oder wenig zu trinken. Jedoch kommt es durch das Trinken mittel- oder langfristig immer wieder zu Kontrollverlusten.

In diesem Zusammenhang wird auch die Frage erhoben, warum der Betroffene nach seinen verhängnisvollen Erfahrungen anlässlich seiner wiederholten Kontrollverlusterlebnisse denn dann trotzdem immer wieder anfängt zu trinken. Er ist in diesem Stadium bereits psychisch von der Alkoholwirkung abhängig geworden, wenn es ihm auch noch nicht bewusst ist. Sein Wille in Verbindung mit Alkohol ist mindestens beeinträchtigt, er selbst jedoch glaubt, dass er seine diesbezügliche Willenskraft nur vorübergehend verloren hat und sie daher wiedererlangen kann und muss. Er ist sich jedoch darüber nicht im klaren, dass er bereits alkoholkrank geworden ist und es ihm somit unmöglich ist, seinen Alkoholkonsum über längere Zeiträume hinweg einzuschränken oder zu kontrollieren.

In ähnlicher Weise erlebt der Medikamentenabhängige, dass es ihm in zunehmendem Masse immer weniger gelingt, sich an ärztliche Dosierungsvorschriften bzw. Einnahmeanweisungen auf dem Beipackzettel zu halten, wobei er eine zunehmende Dosissteigerung erlebt.

Stimmungsverändernde Medikamente werden dann nicht selten bei immer geringeren AnIässen eingenommen oder vorsorglich eingesetzt, manchmal auch durch andere psychisch wirksame Substanzen in ihrer Wirkung verstärkt und/oder schliesslich völlig unabhängig vom ursprünglichen Verordnungsanlass (Indikation) eingenommen (z.B. Schlafmittel auch tagsüber).

Die eingenommene Medikamentenmenge kann dabei genau wie die Trinkmenge des Alkoholikers in beängstigender Weise gesteigert werden.

Im allgemeinen ist es für den Medikamentenabhängigen jedoch deutlich schwieriger, im Anschluss an Kontrollverlusterfahrungen Abstinenzphasen einzuhalten.

9. Erklärungen, warum man so trinke (Ausreden, Alibis)

Mit dem Einsetzen von Kontrollverlusten erlebt das Trinken des Alkoholikers eine erneute Steigerung. Nicht selten führt dies zu heftiger Selbstkritik und/oder Kritik von anderen. Da der Alkoholiker zu diesem Zeitpunkt jedoch im allgemeinen noch nicht bereit ist, sein Trinken aufzugeben, empfindet er einen Rechtfertigungszwang, aus dem heraus er sich unbewusst ein Erklärsystem aufbaut, d.h. er redet sich ein, dass er einen guten Grund zum Trinken gehabt habe und ohne diesen Grund genau so mässig wie alle anderen trinken könne. Diese Trinkalibis führen im weiteren Verlauf dazu, dass der Alkoholiker sich zwar durch vielerlei Probleme belastet sieht, sein Trinkverhalten jedoch lange Zeit nicht als Problem erkennen kann.

Solchen Trinkalibis können durchaus reale und massive Probleme zugrunde liegen, die vom Betroffenen dann manchmal unbewusst aufrechterhalten oder herbeigeführt werden, um sich selbst eine Erlaubnis zum Trinken zu geben und/oder eine Auseinandersetzung mit dem Trinkverhalten zu vermeiden. Aus alledem wird ersichtlich, dass Erklärsysteme einen deutlich suchtaufrechterhaltenden Charakter haben.

Im Unterschied zum Alkoholiker verfügt der Medikamentenabhängige vom Beginn der Medikamenteneinnahme an über eine häufig vom Arzt durch Verordnung bestätigte Rechtfertigung der Suchtmitteleinnahme. Aber auch die Einnahme freiverkäuflicher Medikamente erscheint dem Betroffenen oft als gerechtfertigt, da Medikamente auch schon im allgemeinen Verständnis als Hilfs- und Heilmittel gelten.

Im Verlauf der süchtigen Entwicklung beim Einsatz dieser Medikamente erhält jedoch die ursprüngliche Symptomatik, ähnlich wie beim Alkoholiker, mehr und mehr Alibicharakter, der jedoch dem Betroffenen oft lange Zeit nicht bewusst wird. Dadurch, dass viele stimmungsverändernde Medikamente letztendlich bei längerer süchtiger Einnahme, die durch sie ursprünglich bekämpften Symptome hervorrufen oder verstärken können, gerät der Medikamentenabhängige mehr und mehr in einen Teufelskreis von wachsendem Bedarf und gesteigerter Einnahme, die ihm jedoch vor diesem Hintergrund dann immer noch als gerechtfertigt erscheint.

10. Reaktionen der Umwelt

Infolge der zahlreicher und massiver werdenden Kontrollverluste wird das soziale Umfeld des Alkoholikers zunehmend auf sein Trinkverhalten aufmerksam. Familienangehörige, Freunde, Arbeitskollegen und/oder Vorgesetzte sprechen ihn auf seine ,Fahne" oder andere Auffälligkeiten an, warnen und kritisieren ihn oder machen ihm sein Trinkverhalten zum Vorwurf. Gegen diese Reaktionen der Umwelt verteidigt sich der Betroffene oft mit Hilfe seines Erklärsystems, das sich dadurch weiter verfestigt. Gleichzeitig bemüht er sich daraufhin, sein Trinken noch besser zu verbergen.

Durch die wesentlich geringere Auffälligkeit der süchtigen Medikamenteneinnahme am Anfang der kritischen Phase reagiert die soziale Umwelt des Medikamentenabhängigen im allgemeinen erst sehr viel später in der oben beschriebenen Weise.

11. Kompensation des Verlustes an Selbstachtung

Zunehmende Kontrollverluste und damit im Zusammenhang stehende Misserfolgserlebnisse sowie die Kritik der Umwelt führen beim Alkoholiker zu einem schleichenden Verlust an Selbstachtung. Um diesen Verlust an Selbstakzeptanz zu kompensieren (ihm entgegen zu wirken) bzw. ihn nach aussen nicht sichtbar werden zu lassen, stellt der Betroffene für sich und andere vor allem die Dinge und Bereiche positiv heraus, in denen er noch gut funktioniert. Oft stachelt er sich in diesem Zusammenhang zu besonderen Leistungen an, um sich und anderen zu zeigen, dass er durch sein Trinken in keinster Weise oder höchstens in un-wesentlichen Bereichen, beeinträchtigt sei. Manchmal findet dieses Verhalten auch seinen Ausdruck in besonderer Extravaganz und Grossspurigkeit, wodurch der Alkoholiker sich selbst und vor allem andere davon zu überzeugen versucht, dass er noch nicht so schlecht dran sei, wie er manchmal denkt oder wie es nach aussen hin aussehen mag.

Infolge der häufig wesentlich längeren Glaubhaftigkeit und Wirksamkeit des Erklärsystems bei Medikamentenabhängigen tritt dies kompensierende Verhalten meist seltener und wenn dann deutlich später auf.

12. Auffällig aggressives Benehmen

Aufgrund seiner schwindenden Selbstachtung, der zunehmenden Kritik von anderen und dadurch, dass er mit seinem Erklärsystem immer weniger überzeugen kann, legt der Alkoholiker ein im Vergleich zu vorher ungewohnt aktiv oder passiv aggressives Verhalten an den Tag.

Aktiv weist er z. B. wohlmeinende Ansprachen barsch zurück, schlägt in Auseinandersetzungen verbal rücksichtslos um sich oder wird sogar handgreiflich. Passiv stellt er die Kommunikation, insbesondere in der Familie mit ihm wohlmeinenden Personen ganz ein oder gestaltet sie auffallend einsilbig. In Verbindung damit erlebt sich der Alkoholiker manchmal auch in einer Opferrolle, wobei er seiner Umwelt die Schuld für sein Verhalten und die daraus entstandenen Schwierigkeiten zuschiebt.

Bei Medikamentenabhängigen findet sich dieses Verhalten ebenso, allerdings meist zu einem späteren Zeitpunkt.

13. Dauerndes Schuldgefühl als Anlass zum erneuten Trinken

Das in den Punkten 8 bis 12 beschriebene Verhalten führt trotz aller Abwehrbemühungen des Alkoholikers zu immer bedrückenderen Schuldgefühlen, die der Betroffene dann häufig durch erneutes Trinken zu beseitigen versucht (Teufelskreis).

Beim Medikamentenabhängigen findet sich ein ähnliches Verhalten.

14. Zeiträume völliger Abstinenz

Infolge der häufig abschreckenden Kontrollverlusterfahrungen und oft auch des zunehmenden sozialen Druckes aus der Umwelt gelingt es dem Alkoholiker nicht selten, längere oder kürzere Zeiträume völliger Alkoholabstinenz einzuhalten, die er fälschlicherweise als Beweis dafür nimmt, dass er sein Trinken wieder ,im Griff" habe und daher auch wieder kontrolliert trinken könne.

Dieses Verhalten findet sich bei Medikamentenabhängigen sehr viel seltener, da der körperliche und seelische Druck zur weiteren Einnahme hier meist deutlich höher ist. Dies hängt damit zusammen, dass der Medikamentenabhängige von der Notwendigkeit der Einnahme seines Mittels in der Regel tiefer überzeugt ist.

15. Änderung des Trinksystems

Zur Begrenzung und Vermeidung der unerwünschten Folgen des Kontrollverlustes entwickelt der Alkoholiker ein Trinksystem mit von ihm festgelegten Regeln. So versucht er z.B. nicht vor einer bestimmten Tageszeit mit dem Trinken zu beginnen, nur noch am Wochenende, nur noch an bestimmten Orten oder nur noch eine bestimmte Art (z.B. nur noch Bier) und Menge Alkohols zu trinken oder ähnliches.

Zu diesem Punkt gehört für den Alkoholiker auch die zusätzliche Einnahme stimmungsverändernder Medikamente, um den Alkoholkonsum einzuschränken. Der Alkoholiker verspricht sich davon, bewusst oder unbewusst, die verlorene Kontrolle über die Alkoholmenge zurückgewinnen zu können.

Auch dieses Verhalten tritt beim Medikamentenabhängigen seltener auf und findet seinen Ausdruck neben dem Einhalten bestimmter Einnahmeregeln auch manchmal darin, zeitweise auch andere z.B. ,leichtere" oder nur noch pflanzliche Medikamente einzunehmen. Auch kommt es vor, dass der Medikamentenabhängige damit beginnt, Alkohol anstelle von oder zusätzlich zu seinem Mittel einzusetzen.

16. Fallenlassen von Freunden

Da der Alkoholiker befürchtet, dass seine soziale Umwelt die Veränderung in seinem erhalten, insbesondere seine Unfähigkeit, sein Trinken zu kontrollieren, bemerkt, zieht er sich zunehmend von seiner Umwelt zurück. Er versucht dabei, bewusst oder unbewusst der erwarteten Kritik von Freunden und Bekannten auszuweichen, was oft den Anfang eines umfassenden Prozesses sozialer Isolation bedeutet.

Dieses Verhalten findet sich auch bei Medikamentenabhängigen.

17. Konsequenzen am Arbeitsplatz

Der inzwischen gewachsene Drang zum Weitertrinken wirkt sich nunmehr auf das Verhalten am Arbeitsplatz aus. Oft merkt der Alkoholiker selbst ein Nachlassen seiner Arbeitsmotivation, seiner Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit. Kollegen und Vorgesetzten fällt er nicht selten durch Unpünktlichkeit, Unzuverlässigkeit, häufiges ,Krankfeiern", unangemessenes, reizbares Verhalten oder mit einer ,Alkoholfahne" auf. In diesem Zusammenhang kann es auch zu Abmahnungen, anderen arbeitsrechtlichen oder disziplinarischen Konsequenzen oder zur Kündigung kommen. Manchmal übernimmt er auch selbst die Initiative und entzieht sich einer derartigen Konfrontation, indem er selbst seinen Arbeitsplatz kündigt.

Ähnliche Verhaltensweisen finden sich auch beim Medikamentenabhängigen.

18. Trinken ersetzt soziale Kontakte

Inzwischen hat das Trinken des Alkoholikers den Stellenwert eines universellen Hilfs- und Heilmittels erlangt. Dies führt dazu, dass der Alkoholiker z.B. in schwierigen Lebenssituationen, bei Problemen oder Konflikten nicht mehr um soziale Unterstützung nachsucht, sondern eher dazu geneigt ist, auch hier den Alkohol als Medizin und Seelentröster einzusetzen. Ebenso neigt er dazu, Konfliktsituationen nicht mehr klärend anzugehen, sondern seinen Ärger mit Alkohol hinunter zu spülen. Mit oben beschriebenen Verhaltensweisen setzt sich beim Alkoholiker der Trend fort, sich sozial durch Rückzug in die eigene Problem- und Trinkwelt immer mehr zu isolieren.

Beim Medikamentenabhängigen sind die gleichen Verhaltensweisen zu beobachten.

19. Trinken wird wichtiger als Interessen und Pflichten

Hatte der Alkoholiker bislang sein Trinken überwiegend in geeigneten Lücken (Pausen) seines normalen Tagesablaufes unterzubringen vermocht, so führt sein gesteigertes Trinkbedürfnis nunmehr dazu, seinen Tagesablauf immer mehr zu verändern: Der Tagesablauf wird den Trinkbedürfnissen angepasst.

Je nach individuellen Möglichkeiten, die berufliche und persönliche Tagesstruktur selbst zu gestalten, zeigt sich ein mehr oder weniger an den Trinkbedürfnissen ausgerichteter Tagesablauf. Dabei versucht der Alkoholiker jedoch nach wie vor, seinen beruflichen und familiären Verpflichtungen Genüge zu tun, vernachlässigt jedoch oft bereits deutlich rein persönliche Vorlieben und Interessen (z.B. Hobbys, die sich nicht mit dem Trinken vereinbaren lassen). Dabei wird für den Betroffenen häufig eine zunehmende Gleichgültigkeit und EnergieIosigkeit spürbar, die dazu führt, dass er sich trotz z.B. ausgeprägter sportlicher oder kultureller Vorlieben nicht mehr zu derartigen Unternehmungen aufrafft.

Dieses Verhalten führt zu einer Verstärkung seiner Unzufriedenheitsgefühle, wobei sich nicht selten auch das persönliche Interesse an der Arbeit massiv reduziert und die berufliche Tätigkeit nur noch ausgeübt wird, um vorgegebene Leistungsanforderungen zu erfüllen (Kritikvermeidung).

Auch beim Medikamentenabhängigen zeigt sich eine massive Gleichgültigkeit und Energielosigkeit, die zu einer deutlichen Vernachlässigung seiner individuellen Lebensgestaltung führt. Vom Alkoholiker unterscheidet er sich lediglich dadurch, dass seine Suchtmitteleinnahme in der Regel weniger Zeit beansprucht und weniger auffällt.

20. Trinken wird wichtiger, als die Menschen, die mir nahestehen

Durch die massiv zunehmende Kritik, auch der engeren Vertrauenspersonen (Partner, Familie, enge Freunde) an seinem Trinkverhalten, gerät der Alkoholiker unter einen erheblichen Druck. Während er einerseits bestrebt ist, seine engen \/ertrauenspersonen nicht noch weiter zu enttäuschen, erlebt er andererseits immer deutlicher, dass es ihm nicht gelingt, sein Trinken unter Kontrolle zu halten. Trotz ernsthaftester Vorsätze und Beteuerungen stösst er diese Menschen durch sein weiter trinken immer wieder vor den Kopf. Er entzieht sich dadurch oft gemeinschaftlichen Unternehmungen oder beschwört Streitereien herauf, die er dann als Alibi benutzt, um sich zurückziehen und weiter trinken zu können. Dieses Verhalten ist beim Alkoholiker somit nicht selten auch mit Schuldzuweisungen an die nächsten Angehörigen verbunden.

Die Angehörigen gewinnen dabei oft den Eindruck, dass sie jede Einflussmöglichkeit auf den Alkoholiker verloren haben und ihm wesentlich weniger bedeuten als der Alkohol.

Ahnlich verhält es sich beim Medikamentenabhängigen nachdem sein süchtiger Umgang mit Medikamenten seiner Umwelt offenbar geworden ist.

21. Auffallendes Selbstmitleid

Der Alkoholiker bemerkt, dass er sich der von ihm als unangemessen empfundenen Kritik seiner Umwelt an seinem Trinkverhalten trotz seiner emstgemeinten, aber meist erfolglosen Bemühungen letztlich nicht zu entziehen vermag. Oft fühlt er sich dabei von allen unverstanden und abgelehnt. Er neigt dazu, sich resignierend einem auffallenden Selbstmitleid zu überlassen, das ihm nicht selten als Alibi für erneutes Trinken dient.

Dieses Verhalten zeigt sich beim Medikamentenabhängigen häufig besonders ausgeprägt, da er die Einnahme seiner Medikamente auch jetzt noch oft als ,medizinisch begründet" und damit gerechtfertigt ansieht.

22. Gedankliche oder tatsächliche Flucht

Selbstmitleid, zugespitzter sozialer Druck und die verschärfte soziale Isolation verstärken beim Alkoholiker die unbestimmte Hoffnung, unter veränderten äusseren Gegebenheiten (anderer Wohnort, andere Arbeitsstelle, andere Partner o.ä.) sein Leben und insbesondere sein Trinkverhalten wieder ,in den Griff" bekommen zu können.

Er versetzt sich in seiner Phantasie in veränderte Lebensbedingungen, die für ihn günstiger erscheinen, wobei diese Gedanken sich zur ,fixen Idee" verdichten können. Damit verbunden ist häufig auch die Hoffnung, sich seiner Vergangenheit und damit auch den Folgen seines Trinkens entledigen zu können. Bisweilen kommt es vor, dass der Alkoholiker diese "Fluchtideen" auch konkret z. B. durch Umzug an einen anderen Ort in die Tat umsetzt.

Beim Medikamentenabhängigen findet sich dieses Verhalten in dieser Ausprägung seltener. Oftmals entwickelt er jedoch auch selbstmitleidige Visionen von einem beschwerdefreien aktiven und zufriedenem Leben.

23. Änderungen im Familienleben

Im Zuge dieser Entwicklung treten dann auch Veränderungen im Zusammenleben der Familie und im Verhalten der einzelnen Familienmitglieder ein. Ursache dieser Veränderung ist zunächst häufig der Versuch der Familienmitglieder, den Alkoholiker im Auge zu behalten und vor Schaden zu bewahren. Nachdem diese Versuche nichts gefruchtet haben, versuchen die Familienmitglieder im allgemeinen, dem Alkoholiker aus dem Weg zu gehen und evtl. eigene Interessen wieder aufzunehmen bzw. neue zu entwickeln.

Um zu verhindern, dass das Trinkverhalten des Alkoholikers Aussenstehenden bekannt wird, ziehen sich die Familienmitglieder oft auch aus sozialen Kontakten zurück: Kinder laden keine Freunde mehr nach Hause ein oder gehen nicht mehr weg, Partner sagen Einladungen ab oder geben soziale Kontakte auf. Häufig reduzieren sich die Kontakte der Familienmitglieder auch untereinander auf das Notwendigste, wobei das Trinken nicht selten zum einzigen Gesprächs- und Streitthema wird. Kinder leiden sehr unter dieser Situation, da sie nicht begreifen, was um sie herum geschieht und den damit verbundenen Auswirkungen oft nicht gewachsen sind. Auch Trennung und Scheidung sind hier als äusserste Konsequenz dieser Veränderung zu nennen.

Bei Medikamentenabhängigen zeigen sich in der Regel ähnliche Veränderungen im Familienleben.

24. Grundloser Unwillen

Aufgrund seiner Angst vor Kritik, Schuldgefühlen, Selbstzweifeln, unterdrückten Trinkwünschen oder Entzugsdruck lebt der Alkoholiker jetzt in einem anhaltenden Spannungszustand, der oft bei ihm einen grundlosen, d.h. nicht durch einen äusserlich ersichtlichen Anlass gerechtfertigten, Unwillen auslöst. Dies kann sich z.B. in ausgeprägter Ungeduld, auffallender Gereiztheit, raschem Aufbrausen oder extrem leichter Kränkbarkeit zeigen.

Medikamentenabhängige zeigen ein ähnliches Verhalten, wobei die Ausprägung des geäusserten Unwillens abhängig ist von der Art der eingenommenen Medikamente.

25. Sichern des Alkoholvorrates und verschärftes heimfiches Trinken

Die inzwischen massiven Kontrollverlusterfahrungen ebenso wie das inzwischen schon existentielle seelische Bedürfnis Alkohol jederzeit greifbar zu haben, veranlassen den Alkoholiker, seinen Alkoholvorrat immer zu sichern, wobei er je nach Lebenssituation spätestens jetzt auch dazu übergeht, ihn zu verstecken.

Diese Entwicklung verläuft beim Medikamentenabhängigen dann deutlich dramatischer, wenn er für einen ausreichenden Vorrat rezeptpflichtiger Medikamente sorgen muss. Es kommt dann zu häufigen Arzt- und Apothekenwechseln, Rezeptfälschungen u.ä.

26. Vernachlässigung angemessener Ernährung

Da der Alkoholiker immer mehr gedanklich und in seinem Handeln um den Alkohol kreist und sich darüber hinaus auch erste Auswirkungen des Trinkens auf den Organismus bemerkbar machen (Appetitlosigkeit), beginnt er auch allmählich, seine Ernährung zu vernachlässigen. In Trinkphasen isst er häufig unregelmässig oder gar nicht oder ernährt sich überwiegend von Fastfood oder Fertigprodukten.

Auch bei Medikamentenabhängigen kann eine solche Vernachlässigung der Ernährung auftreten. Sie ist jedoch deutlich seltener.

27. Erste medizinische Behandlungen werden notwendig

Beim Alkoholiker werden die ersten organischen Schäden akut wie z.B. Gastritis (Magenschleimhautentzündungen), Leberschäden, vegetative Dystonie (Neigung zu Herzrasen, Blutdruckschwankungen, vermehrtes Schwitzen u.ä.), oder es treten alkoholbedingte Unfälle und Verletzungen auf, so dass ambulante oder stationäre ärztliche Behandlungen notwendig werden. Es kann auch zu ersten ambulanten oder stationären Entgiftungen kommen.

Auch bei Medikamentenabhängigen zeigen sich in dieser Entwicktungsphase medizinisch behandlungsbedürftige Suchtfolgen.

28. Veränderungen im Sexualverhalten

Hat zu Beginn die Alkoholwirkung noch dazu beigetragen, sexuelle Hemmungen abzubauen und damit möglicherweise zu einer Steigerung sexueller Aktivitäten geführt, zeigt sich im Rahmen der allgemein zugenommenen InitiativIosigkeit des Alkoholikers jetzt eher ein verringertes bis völlig geschwundenes Interesse an Sexualität. Oft führen auch die ,Alkoholfahne" und die alkohol-bedingten körperlichen Ausdünstungen zu einer gegenseitigen Vermeidung körperliche Annäherung. Bei Männern führt die anhaltende organische Vergiftung nicht selten auch dazu, dass sie nicht mehr in der Lage sind, den Geschlechtsakt durchzuführen (Impotenz).

Je nach Wirkweise des eingesetzten Medikamentes können auch beim Medikamentenabhängigen im sexuellen Bereich InitiativIosigkeit und Interessenverlust auftreten. Bei anhaltender organischer Vergiftung kann auch bei dem Medikamentenabhängigen Impotenz auftreten.

29. Alkoholische Eifersucht

Im Zusammenhang mit dem unter Punkt 28 beschriebenen Verhalten und insbesondere auch durch den vom Alkoholiker selbst wahrgenommenen Verfall der eigenen Attraktivität zeigen Betroffene nicht selten unbegründete eifersüchtige Reaktionen. Dem Partner wird unterstellt, er strebe nach einem attraktiven Ersatz oder habe diesen bereits gefunden. Dies kann sich zur ,fixen Idee" entwickeln.

Auch beim Medikamentenabhängigen findet sich ein solches Verhalten.

30. Morgendliches Trinken

Aufgrund des sich immer stärker ausprägenden Kontrollverlustes führt der nach vorabendlichem Trinken über Nacht abgesunkene Alkoholspiegel, verbunden mit der zunehmenden Angst, den Alltag nicht mehr bewältigen zu können, dazu, dass der Alkoholiker bereits in den Morgenstunden oder am Vormittag einen fast unwiderstehlichen Drang zum Trinken verspürt, dem er immer häufiger nachgibt.

Mit diesem Verhalten steht der Alkoholiker deutlich ausserhalb der gesellschaftlichen Trinkkonventionen. Auch dadurch wird erkennbar, inwieweit seine körperliche und moralische Widerstandskraft durch die Krankheit bereits untergraben sind.

In dieser Form gibt es dieses Symptom bei Medikamentenabhängigen nicht. Häufig fällt jedoch auch bei ihm die Art und/oder Menge der morgens oder vormittags eingenommenen Medikamente aus dem Rahmen (z. B. Schlafmittel morgens).

D. Chronische Phase

Die chronische Phase umfasst zum einen Symptome körperlichen und seelischen Entzugs sowie als Folge langjähriger Suchtmitteleinnahme spezifische körperliche Folgeerkrankungen. Zum anderen ist sie dadurch gekennzeichnet, dass das Verhalten des Abhängigen der Suchtmitteleinnahme phasenweise fast uneingeschränkt untergeordnet ist. Dies löst häufig massivste negative Reaktionen des Umfeldes aus und führt so zu einem erheblichen Leidensdruck des Betroffenen.

31. Ununterbrochener Alkoholeinfluss über mehrere Tage

Die zunehmend beherrschende Rolle des Alkohols, die sich schon im morgendlichen Trinken zeigt, lässt den Vorsatz des Alkoholikers, weniger zu trinken immer öfter zusammenbrechen, so dass es vorkommt, dass er über mehrere Tage hinweg ständig unter Alkoholeinfluss steht. Dabei kann es passieren, dass er tagsüber deutliche Anzeichen von Trunkenheit zeigt, die er nicht mehr überspielen kann.

Dieses Symptom setzt voraus, dass der Alkoholiker bei seinem morgendlichen Trinken bereits auf den Restalkohol des Vortages erneut Alkohol trinkt.

Wegen der oft langanhaltenden Wirksamkeit stimmungsverändernder Medikamente setzt diese Symptomatik bei Medikamentenabhängigen relativ früh ein. Der Medikamentenabhängige, der bereits morgens seine eigenmächtig erhöhte Dosis einnimmt, diese über den Tag hinweg immer wieder eigenmächtig ergänzt und in dieser Weise über mehrere Tage verfährt, befindet sich ebenfalls unter anhaltendem Medikamenteneinfluss. Oft erlebt auch der Medikamentenabhängige, dass seine Vorsätze, Medikamente vorsichtiger zu dosieren, dabei zusammenbrechen. Es kann jetzt durchaus vorkommen, dass dem Betroffenen die Medikamenteneinnahme am Tag mehr oder weniger deutlich anzumerken ist.

32. Zusammenbruch individueller Wertvorstellungen

Der sich immer massiver und zwanghafter durchsetzende Kontrollverlust in Verbindung mit der zunehmenden Gleichgültigkeit und Resignation des Alkoholikers führen dazu, dass auch wesentliche eigene Wertvorstellungen nicht mehr befolgt werden können. D.h. auch, dass der Betroffene ggfs. bereit ist, sich im Notfall über alle gesellschaftlichen Regeln und Vorstellungen hinweg zu setzen, um sich das Trinken zu ermöglichen.

So kann es zum Beispiel vorkommen, dass er Besitz- und Eigentumsverhältnisse ausser Acht lässt, seine Körperpflege in auffälliger Weise vernachlässigt oder sich völlig über berufliche und private Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten hinwegsetzt.

Beim Medikamentenabhängigen findet sich das gleiche Verhalten, wobei hier aufgrund der Beschaffungsproblematik auch nicht selten illegale Praktiken angewandt werden, wie z.B. Rezeptfälschungen oder Schwarzmarktgeschäfte.

33. Beeinträchtigung des Denkens

Das Denkvermögen des Alkoholikers bzw. des Medikamentenabhängigen weist inzwischen erhebliche Ausfallerscheinungen auf. Oft ist er nicht mehr oder nur noch begrenzt in der Lage, seine Situation realitätsgerecht oder mit der ausreichenden Kritikfähigkeit einzuschätzen. Oft ist er auch nicht mehr zu folgerichtigen Überlegungen imstande, schwierige Zusammenhänge können nur noch mühsam oder gar nicht erfasst werden und/oder die Konzentrationsfähigkeit ist massiv beeinträchtigt, so dass es z.B. oft schwerfällt, längere Texte zu lesen und zu verstehen.

Auch kann es im Zusammenhang damit zu auffälligen beruflichen und privaten Fehlentscheidungen kommen. Ebenso ist es aufgrund der Beeinträchtigung des Denkens bisweilen

auch schwer, neue Sichtweisen und Gedanken - so wie das in einer Therapie notwendig ist in das eigene Denksystem aufzunehmen. Nicht selten ist die gesamte intellektuelle Leistungsfähigkeit jetzt auch in Abstinenzphasen deutlich beeinträchtigt.

34. Psychische Entzugserscheinungen

Mit dem Absinken des Alkoholspiegels treten bei dem Betroffenen unbestimmbare, massive Ängste und ausgeprägte innere Unruhe auf. Er fühlt sich ständig nervös. Diesen Zustand versucht er mit Alkohol abzuwehren bzw. zu überspielen, was ihm jedoch auf Dauer nur gelingen kann, wenn er seinen Alkoholspiegel ständig auf einer bestimmten Höhe hält.

Bei Medikamentenabhängigen wird die Form der Entzugserscheinungen bestimmt durch die Art des eingesetzten Medikamentes. So wird z.B. jemand, der von Beruhigungsmedikamenten und Schlafmitteln abhängig ist, im Entzug - ähnlich wie der Alkoholiker - Angstgefühle verspüren, während beim Schmerzmittelabhängigen neben der Unruhe in der Regel Schmerzen auftreten. Wer von Aufputschmitteln abhängig ist, wird sich dagegen beim Absinken der Wirkung deutlich niedergeschlagen, körperlich schlapp und abgeschlagen fühlen.

35. Erhebliche körperliche Entzugserscheinungen

Mit dem Absinken des Alkoholspiegels können jetzt beim Alkoholiker auch massive körperliche Entzugserscheinungen, wie anhaltendes Zittern, besonders der Hände (Tremor), massive Schweissausbrüche, Herzrasen, Schwindel, Erbrechen oder Würgen auftreten. Besonders ausgeprägt sind diese Symptome häufig morgens, wenn der Betroffene in der Nacht seinen Alkoholspiegel nicht ergänzt hat. Das verräterische Zittern erlebt der Alkoholiker aber auch nicht selten in Situationen, in denen er sich beobachtet fühlt. Auch diese Zustände kann der Alkoholiker nur noch mit erneutem Trinken unter Kontrolle bringen.

Das Auftreten körperlicher Entzugserscheinungen bei Medikamentenabhängigen äussert sich in ähnlicher Form. Die Form der Entzugserscheinungen wird jedoch, wie unter 34 beschrieben, durch die Art des eingesetzten Medikamentes bestimmt.

36. Veränderungen bei der Wahl der Trinkgesellschaft

Ähnlich wie bei dem unter 32 beschriebenen Zusammenbruch individueller Wertvorstellungen kann es jetzt auch vorkommen, dass es dem Alkoholiker bei der Wahl seiner Trinkgesellschaft nur noch darauf ankommt, sich das Weitertrinken in Gesellschaft zu sichern. So kann es dazu kommen, dass er jetzt auch mit Personen trinkt, mit denen er sonst kaum Kontakt suchen oder den Kontakt sogar unbedingt vermeiden würde: Oft schliesst er sich auch einem Personenkreis an, dem er sich deutlich überlegen fühlt und verfährt hier nach dem Motto: "Unter den Blinden ist der Einäugige König."

Beim Medikamentenabhängigen tritt dieser Punkt bisweilen im Zusammenhang mit dem Beschaffungsverhalten auf (z.B. Schwarzmarktbeschaffung).

37. Zuflucht zu alkoholhaltigen Ersatzstoffen

Der Drang, weiter zu trinken, um Entzugserscheinungen zu vermeiden, kann jetzt so massiv werden, dass der Alkoholiker, falls kein anderer Alkoholvorrat zugänglich ist, zu alkoholhaltigen Ersatzstoffen greift, wie z.B. Kölnisch Wasser oder Parfüm, alkoholhaltige Medizin, Melissengeist, Spiritus, Franzbranntwein o.ä.

In der beschriebenen Form tritt dieser Punkt bei Medikamentenabhängigen in der Regel nicht auf, was jedoch vorkommen kann, ist, dass der Betroffene in Entzugssituationen Medikamente völlig wahllos und unabhängig von deren Indikation und Zielrichtung einsetzt (z.B. Beruhigungsmittel bei Schmerzen).

38. Massives Entzugssyndrom

Die unter Pkt. 35 beschriebene Entzugssymptomatik kann so ausgeprägt sein, dass es zu schweren Kreislaufstörungen, Blutdruckentgleisungen, Herzrhythmusstörungen und anderen körperlichen Beschwerden kommt, die unbedingt ärztlicher Hilfe, ggf. auch eine Krankenhauseinweisung erforderlich machen. Komplizierend kann auch ein unter Pkt. 41 erwähntet Krampfanfall hinzukommen. Kommen sowohl beim Alkoholiker als auch beim Medikamentenabhängigen weitere Entzugssymptome hinzu, wie z.B. ausgeprägte Schreckhaftigkeit, Wahnvorstellungen und/oder Halluzinationen, spricht man von einem Delir (Pkt. 45).

39. Internistische und neurologische Folgeerkrankungen

Schwerwiegende internistische oder neurologische Folgerkrankungen des Alkoholikers machen ärztliche, ambulante oder stationäre Behandlungen erforderlich. Es handelt sich hier auf internistischem Gebiet hauptsächlich um mehr oder minder fortgeschrittene Lebererkrankungen, Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse und des Verdauungssystems, massive Stoffwechsel- und Elektrolytstörungen (Fettstoffwechselstörungen, Gicht, Diabetes mellitus, Muskelkrämpfe), Bluthochdruck (Folge: Herzinfarkt und Schlaganfall), schlecht heilende Hauterkrankungen, Blutbildveränderungen (Blutarmut und Infektanfälligkeit) und Herz- und Lungenerkrankungen.

Neurologischerseits kommt es infolge der chronischen Alkoholintoxikation (Vergiftung) zu Schädigungen des peripheren, d. h. motorischen und sensiblen Nervensystems, der sogenannten Polyneuropathie. Sie äussert sich im Frühstadium in Kribbeln und Taubheitsgefühl sowie Kraftminderung oder Lähmung, zunächst im Bereich der Hände und Füsse. Es kommt z.B. zu brennenden Füssen (besonders nachts) und Gangunsicherheit oder Störungen im Bereich der Hände z.B. beim Greifen. Im weiteren Verlauf der Erkrankung steigt die Polyneuropathie immer mehr auf, so dass dann auch immer mehr die Arme und Beine, später der ganze Körper betroffen ist. Es kommt es zu immer stärkeren Taubheitsgefühlen, Kribbelgefühlen, Schmerzen oder Lähmungen.

Gleichzeitig kommt es durch Beeinträchtigung des sog. vegetativen Nervensystems zu Völlegefühl, Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, morgendlichem Erbrechen, Herzrasen und Durchblutungsstörungen an Händen und Füssen. Auch vermehrte Schweissausbrüche sind als Zeichen des gestörten vegetativen Nervensystems zu sehen.

Schädigungen des zentralen Nervensystems zeigen sich als irreparable Zerstörungen der Hirnzellen (Hirnabbau) mit der Folge von erheblichen Störungen der Merk- und Konzentrationsfähigkeit, sowie der Kritikfähigkeit und des Auffassungsvermögens (in ausgeprägtester Form: sog. Korsakow-Syndrom).

Im Gegensatz zu vielen Organen ist das Nervensystem nicht in der Lage sich zu erneuern.

Alle o.g. Symptome können auch mehr oder minder ausgeprägt bei Medikamentenabhängigkeit auftreten. Insbesondere zeigen sich jedoch je nach Medikament Leber-, Magenund Nierenerkrankungen sowie Beeinträchtigungen des vegetativen Nervensystems bis hin zur Polyneuropathie und des Hirnabbaus.

40. Trinken wird Besessenheit

Wenn der Alkoholiker in diesem Krankheitsstadium mit dem Trinken beginnt, kann es ihm passieren, dass er den Drang zum Weitertrinken als so unwiderstehbar erlebt, dass er auch massivste negative Folgen in Kauf nimmt und/oder extrem unverhältnismässige Risiken bei seinem Weitertrinken eingeht: So nimmt er z.B. trotz bereits bestehender berufliche Probleme in Kauf, gar nicht oder mit ,Fahne" am Arbeitsplatz zu erscheinen oder am Arbeitsplatz weiter zu trinken. Der Drang zum Weitertrinken steuert sein gesamtes Verhalten, so dass sein Weitertrinken ohne Rücksicht auf Verluste und ohne jede Vernunft erfolgt.

Auch beim Medikamentenabhängigen zeigt sich häufig diese Symptomatik, wobei die konkrete Ausformung dieses Symptoms sich infolge der Langzeitwirkung stimmungsverändernder Medikamente deutlich unterscheiden kann, aber auch hier werden die Medikamente zum wichtigsten Element der Lebensgestaltung.

41. Entzugsbedingte Krampfanfälle

Wenn der Alkoholiker seinem Körper in dieser Entwicklungsphase der Suchtkrankheit nicht ausreichend Alkohol zuführt bzw. ihm den Alkohol gänzlich entzieht, kann es zu entzugsbedingten Krampfanfällen kommen. Der Betroffene verliert - meist ohne Vorwarnung - plötzlich das Bewusstsein, stürzt und verfällt zunächst in eine heftige Verkrampfung der Muskulatur, danach in rhythmische Bewegungsabläufe. Eine Erinnerung an dieses Ereignis besteht in aller Regel nicht. Krampfanfälle können zu jeder Tageszeit - auch im Schlaf - auftreten. Solche Krampfanfälle sind durch den damit verbundenen Atemstillstand lebensbedrohlich.

Auch bei Medikamentenabhängigen können im Entzug Krampfanfälle auftreten.

Bei stationären Entgiftungsbehandlungen kann mit Hilfe von Medikamenten die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Krampfanfällen deutlich gesenkt werden. In einigen Fällen kann sich auch ein dauerhaftes Anfallsleiden entwickeln (alkoholische Epilepsie).

42. Selbstmordgedanken bzw. -versuche

Auf der Basis häufig sehr massiver Schuldgefühle, Selbstvorwürfe und ausgeprägter

Minderwertigkeitsgefühle, entwickelt sich bei dem Alkoholiker oft das nun mehr klare Bewusstsein, dass weiteres Trinken seine Lebenssituation nur noch verschlimmern kann. Gleichzeitig drängen ihn die Angst vor Entzugserscheinungen sowie die inzwischen verschärft bestehende Befürchtung, seinen Alltag ohne Alkohol nicht bewältigen zu können, dazu, weiter zu trinken. Hilflos in diesem Spannungsfeld gefangen, kann er nun in einen so verzweifelten Gemütszustand geraten, dass er ernsthaft Überlegungen anstellt, sich das Leben zu nehmen bzw. dies tatsächlich versucht.

Bei Medikamentenabhängigen zeigt sich dies in gleicher Weise.

43. Abfall der AIkoholtoleranz

Durch die massive körperliche Schädigung, insbesondere der Leber, kann es dazu kommen, dass die bis dahin stark erhöhte Alkoholtoleranz plötzlich deutlich zurückfällt. -Dieser sogenannte "Toleranzknick" zeigt sich darin, dass sich der Betroffene bereits nach der Einnahme geringer Mengen Alkohols betrunken fühlt. Da diese Wirkung jedoch im allgemeinen nicht lange anhält, trinkt er jetzt in noch kürzeren Abständen noch hektischer und zwanghafter.

In dieser Form findet sich ein Toleranzknick bei dem Medikarnentenabhängigen in der Regel nicht.

44. Das Erklärsystem versagt

Das unter Punkt 9 beschriebene Verhalten des Alkoholikers, rationale Erklärungen und Entschuldigungen für sein Trinkverhalten heranzuziehen, wird spätestens in der chronischen Phase durch das eigene Verhalten so häufig und unbarmherzig der Wirklichkeit gegenüber gestellt, dass auch der Betroffene selbst nicht mehr daran glauben kann. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass sein Trinken sich weitgehend verselbständigt hat und so mit zu seinem Hauptproblem geworden ist. Dieses Versagen des Erklärsystems stellt die Voraussetzung dafür dar, sich ernsthaft um Hilfe und Unterstützung zu bemühen (Selbsthilfegruppen, Beratungsstelle, Therapie).

Bei Medikamentenabhängigen gilt dies in gleicher Weise.

45. Alkoholdelirium

Als massivste Entzugserscheinung kann ein Delirium tremens auftreten. Eingeleitet wird es oft mit Schlaf-, Magen-, Darmstörungen und erheblicher motorischer Unruhe, ausgeprägter Schreckhaftigkeit, grobschlägigem Händezittern, ausgeprägtem Schwitzen und Herzrasen. Es findet sich häufig Nesteln an der Bettdecke. Es kommt zum Auftreten meist optischer, selten auch akustischer Halluzinationen, d.h. es wird etwas gehört oder gesehen, was nicht existiert. Die Unruhe kann sich bis zur Getriebenheit steigern. Es bestehen wahnhafte Vorstellungen, die Kritikfähigkeit sowie die Orientierung zu Zeit, Ort und Situation sind eingeschränkt oder aufgehoben. Es besteht eine Steigerung der Beeinflussbarkeit. Das Bewusstsein ist nicht immer getrübt.

Zusätzlich bestehen schwere Entgleisungen der Herz- Kreislaufsystems mit stark erhöhtem Blutdruck, hoher Herzfrequenz und Atemstörungen. Ohne Behandlung besteht die hohe Gefahr eines tödlichen Verlaufes.

Auch beim Medikamentenentzug kann ein Delirium tremens mit ähnlichem Erscheinungsbild auftreten.